Die meisten Shiatsu-Praktiker kennen ihre Meridiane aus dem Effeff. Aber ist das wirklich der Fall? Wie viele wissen, dass jeder der 12 Meridiane nicht nur an der Oberfläche, sondern auch in der Tiefe verläuft? Das Studium der tiefen Verläufe verbessert unser Verständnis erheblich. Betrachten wir das am Beispiel des Lungenmeridians genauer.
Seit einiger Zeit habe ich das Privileg, mit immer mehr Shiatsuka in Kontakt zu kommen, vor allem dank der Kurse, die ich gebe, und durch die sozialen Netzwerke. Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und aus verschiedenen Shiatsu-Stilen kommen zu mir und stellen mir Fragen. Diese Fragen sind für einen Lehrer sehr wichtig, da sie ihn dazu bringen, sich selbst in Frage zu stellen und sich dadurch weiterzuentwickeln. Während des diesjährigen Sommer-Intensiv-Bootcamps sprach ich oft über die tiefen Verläufe der Meridiane, da ich feststellte, dass dies in der Ausbildung nur selten unterrichtet wird. Dabei gibt es einen guten Grund, warum sie erwähnt werden sollten: Ihre Existenz erzählt uns Geschichten, die unser Verständnis der Meridiane vervollständigen.
Da es häufig der erste Meridian ist, den die Schüler kennenlernen und er sowohl ihnen als auch den Praktizierenden vertraut ist, werden wir den Lungenmeridian als Beispiel nehmen. Jeder kennt die Position von LU 1 (6 cun seitlich der Mittellinie auf Höhe des ersten Interkostalraums), der den Beginn des Meridians markiert. Noch bekannter und noch leichter zu finden ist der zweite Punkt (6 cun lateral der vorderen Mittellinie, unterhalb des Schlüsselbeins in einer Vertiefung medial des Rabenschnabelfortsatzes des Schulterblatts). Aber zu meiner großen Überraschung wussten nur wenige, dass LU 1 faktisch nur der Beginn des Oberflächenmeridians ist, d.h. des Teils des Verlaufs, in dem man direkt auf die äußere Energie des Meridians, mit anderen Worten die Punkte oder Tsubos, einwirken kann.
Doch es gibt noch andere Verläufe, die in den entsprechenden Shiatsu-Abbildungen gewöhnlich als gestrichelte Linien dargestellt werden und die den tiefen Teil des Meridians bilden. Es ist wie bei Eisbergen; man hat die Spitze und den Teil unter der Wasseroberfläche. Dieser untergetauchte Teil enthält eine Vielzahl an Informationen über die Rolle oder die Rollen des Meridians, seine Verbindungen und die Verknüpfung mit dem Organ, in diesem Fall der Lunge. Das ist genau das, was mit der Biao/Li-Beziehung gemeint ist, die Verbindung zwischen der Tiefe und der Oberfläche. Im Fall des Lungenmeridians bildet der tiefe Verlauf eine Art Haken über dem Nabel, läuft weit in die Darmzone und passiert den quer verlaufenden Dickdarm sowie einen Abschnitt des Dünndarms.
In anderen Darstellungen verläuft er gekrümmt um den Nabel. In allen Fällen verläuft er weiter durch den Pylorus (unterer Mageneingang) … die Cardia (oberer Mageneingang) … das Zentrum des Zwerchfells … teilt sich rechts und links um das Herz herum und verläuft über die Lungen … vereinigt sich wieder unter dem Manubrium (Handgriff, dem breiten oberen Teil des Brustbeins) …. kopfwärts in den Kehlkopf, um schließlich zum Punkt LU 1 zu verlaufen.
Daneben entspringt ein zweiter innerer Ast bei LU 7 und mündet direkt in DI 1.
Aber was bedeutet das?
Betrachtung des Mini-Verlaufs an der Hand
Man muss kein großer Kenner der chinesischen Medizin sein, um die Bedeutung dieses tiefen Verlaufs zu verstehen.
Der kleine Zweig an der Hand dient lediglich dazu, die Beziehung zwischen den Meridianen Lunge und Dickdarm zu veranschaulichen, die das bekannte Polaritätspaar Yin/Yang bilden und mit der Metallenergie verbunden sind. Tatsächlich endet die Lunge am Daumen und der Dickdarm beginnt am Zeigefinger. Obwohl diese beiden Finger nicht weit voneinander entfernt sind, stehen sie weder in direkter Beziehung noch in engem Kontakt miteinander. Als ich selbst noch Schüler war, hat mich diese Frage sehr verwirrt. Mir wurde erklärt, dass die Energie keine direkte Verbindung braucht, da sie durch die Hautbarriere fließt, um zum Ausgangspunkt des nächsten Meridians zu „springen“. Wirklich? Und warum dann dieser Finger und nicht ein anderer oder gar meine Nasenspitze? Kurzum, an dieser Erklärung war etwas faul. Der tiefe Verlauf des Lungenmeridians an der Hand erklärt konkreter, wie die Beziehung zustande kommt und vor allem, welche Punkte sie ermöglichen.
LU 7, Rekketsu (Liè quē auf Chinesisch – 列缺) oder „Fehlende Ordnung“ ist ein Punkt, den man nicht ignorieren sollte. Er befindet sich vor dem Griffelfortsatz der Speiche (Processus styloideus radii, in Richtung des Meridianflusses) und ist zunächst ein Punkt, der zum VIP-Club der Meisterpunkte gehört. Es gibt insgesamt nur fünf von ihnen, und sie sind alle wie Schweizer Messer, da sie so viele Anwendungen in einem bestimmten anatomischen Bereich (hier der Brust) haben. Außerdem ist es ein Raku-Punkt, besser bekannt im Chinesischen als Luo (Kommunikation) und jetzt raten Sie mal? Mit wem, glauben Sie, kommuniziert er? Mit dem Quellpunkt des zugehörigen Meridians natürlich, nämlich dem Dickdarm (DI 4). Es besteht also de facto bereits eine Beziehung zwischen den beiden Meridianen über LU 7. Aber das ist noch nicht alles. Wenn Sie sich für die Außerordentlichen Gefäße interessieren, werden Sie feststellen, dass er auch einer der Meisterpunkte des Konzeptionsgefäßes (Ren Mai) ist. Man kann ihn auch als Öffnungspunkt des Konzeptionsgefäßes bezeichnen, wenn er mit NI 6 gepaart ist. Umgekehrt ist NI 6 der Öffnungspunkt des Fersen-Yin-Gefäßes und LU 7 sein gepaarter Punkt. Wie Sie sehen, kann man allein durch das Studium dieses tiefen Minipfades der Lunge eine Menge lernen. Was ist nun mit dem großen, tieferen Verlauf?
Aus der Tiefe des Bauches zum Auftauchen der Energie
Folgen wir nun dem großen tiefen Verlauf der Lunge, demjenigen, wenn ich so sagen darf, durch den alles möglich wird. Wir brauchen nicht allzu viel in Büchern nachschlagen, um ihn zu verstehen. Vielmehr möchte ich Ihnen zeigen, wie Sie ihn mit gesundem Menschenverstand und ein wenig Beobachtungsgabe erkennen können. Sein Haken oberhalb des Nabels weist auf eine Beziehung zum mittleren Teil des Dreifachen Erwärmers hin. Wenn er sich unterhalb des Nabels befindet, wie ein Angelhaken, sagt er uns, wie wichtig die Verbindung zwischen Atmung und Geburt ist. Ohne den ersten Atemzug gibt es kein Leben und somit auch keine Nabelschnur, die trocknet und einen Nabel bildet. Am Anfang unseres Lebens, sobald wir den Mutterleib verlassen, müssen wir – vor allem anderen – tief durchatmen. Gegebenenfalls löst ein Klaps auf den Po des Babys eine nervöse Reaktion aus, und das Ergebnis ist dasselbe. Mit anderen Worten bedeutet dies, dass Bauch und Atmung eng miteinander verbunden sind, und ich persönlich bevorzuge diese Erklärung, auch wenn sie etwas weniger akademisch ist.
Die Kreuzung mit dem Pylorus, dem Magen, dem transversalen Teils des Dickdarms und dem Zwerchfell ist ebenfalls nicht grundlos. Sobald wir nämlich unter Stress geraten, hören wir auf zu atmen und versetzen uns in Apnoe (Atemstillstand). Schauen Sie sich nur Ihre Reaktion an, wenn Sie eine unangenehme E-Mail erhalten, schmerzliche Nachrichten lesen oder hören, wie jemand Sie kritisiert. Und wir sprechen hier nur von Dingen, die emotional zu bewältigen sind. Stellen Sie sich nun vor, Sie werden Zeuge, wie direkt vor Ihnen eine Person überfahren wird, weil sie bei roter Ampel über die Straße gegangen ist. Wenn das passiert, hören Sie auf zu atmen, anschließend schreien Sie und werden weiß oder grün, je nach persönlicher Konstitution. Das nennt man emotionalen Schock.
Das Organ, das am empfindlichsten auf emotionale Schocks und die daraus resultierenden Belastungen reagiert, ist die Lunge und unmittelbar danach der Magen. Wer hat nicht schon einmal gespürt, wie sich der Magen bei der Bekanntgabe einer schlechten Nachricht verkrampft? Es dauert nicht lange, bis er sich fest anfühlt, oder? Das liegt an seiner zellulären Natur, aber wir wollen hier nicht zu sehr ins Detail gehen. Wie kann man diesen Bereich nun am besten entspannen? Ich gebe Ihnen einen Tipp: Atmen. Wenn die Lungenenergie bei Stress nach oben steigt, werden Sie anfangen zu weinen, andernfalls können Sie sich beruhigen, wenn Sie sie in den Bauch absinken lassen. Das Zwerchfell, das sich genau darüber befindet, ist ein Meister darin, sich bei Stress selbst zu blockieren, was automatisch die Atmung unterbricht, da es dank seiner Abwärtsbewegung die Einatmung ermöglicht. Auch hier ist es notwendig, ein paar Atemübungen zu machen, um es zu entspannen, und natürlich eine gute Shiatsu-Behandlung zu erhalten.
Der weitere Weg ist recht einfach. Der Meridian umrundet das Herz auf beiden Seiten, um von dort in die Lunge zu gelangen, diesmal um die Verbindung zwischen dem Organ selbst und dem Meridian zu zeigen oder zu veranschaulichen, und führt dann hinauf zum Kehlkopf. Der Kehlkopf ist ein komplexes Organ, ein Teil des Atmungssystems, dessen Aufgabe es ist, das Öffnen und Schließen der oberen Atemwege zu steuern, damit die Luft ein- und ausströmen kann, um zu gähnen, zu schlucken, vor allem aber um die Stimmbänder in Schwingung zu versetzen und sich somit auszudrücken. Die Luft, der Atem, die Sprache, die Lunge, all das ist miteinander verwoben und erklärt, warum wir vorsichtig sein sollten mit dem, was wir sagen (die Buddhisten sprechen im Edlen Achtfachen Pfad vom Begriff der Rechten Rede), sonst verletzen wir sowohl die Lungenenergie als auch die des Herzens, die nah beieinander liegen. Zur Erinnerung: Wenn alle Yin-Organe für eine Emotion verantwortlich sind, kann nur das Herz sie fühlen. Es ist nun an der Zeit, dass all diese Energie an die Oberfläche kommt, nachdem sie all diese Organe aufgeladen hat, was sie am ersten Punkt von Lunge 1 tut.
Wieder sagt uns ein kurzer Blick auf die Namen eine Menge. Dieser Punkt darf nicht nur „LU 1“ genannt werden! Dies ist nur ein spielerischer Code wie für die Seekriegsführung, um das Lernen am Anfang zu erleichtern, der aber schnell zu einer Seemine werden kann, wenn man sich weiter entwickelt. Nein, sein Name ist Chyūfu (oder Zhōng fǔ auf Chinesisch – 中府), was nach den großartigen Erklärungen von Jean Motte, dem berühmten französischen Akupunkteur, „Zentraler Palast“, „Zentrale Schatzkammer“ oder „Zentrales Archiv“ bedeutet, und was mit gesundem Menschenverstand und klug übersetzt „Mitte der Eingeweide“ heißt. Der Palast ist der Ort, an dem sich die Schätze befinden, und welchen besseren Schatz gäbe für uns Shiatsu-Praktiker als den Bauch, die Grundlage und Quelle des Ki. Daher haben die alten Chinesen logischerweise LU 1 mit einem Namen versehen, der auf die Quelle des tiefen Meridianverlaufs hinweist. In der chinesischen Medizin gibt es keine Zufälle.
Die Entdeckung der tiefen Verläufe
Wenn wir mit einem Hauch von gesundem Menschenverstand ausgestattet sind und uns nicht in komplexen Erklärungen verlieren, können wir akzeptieren, unsere Denkweise zu ändern. Dann wird das Studium der tiefen Verläufe zu einer fortwährenden Entdeckungs- und Lernreise, die schieres Vergnügen bereitet. Schon zu Beginn meiner Lehrtätigkeit, während des zweiten Jahres, habe ich einen Lehrplan erstellt, der die tiefen Verläufe, die Muskel-Sehnen- Meridiane und die Kommunikationsmeridiane enthält, denn nur weil man Shiatsu lernt, sollte man diese Aspekte der Energie nicht ignorieren. Im Gegenteil, dieses Wissen ist der Schlüssel, um das komplexe Puzzle der östlichen Medizin in seiner Gesamtheit zu begreifen. So können Sie qualifizierte Techniken anwenden, an die Sie vorher nicht gedacht haben. Wenn Sie zum Beispiel eines Tages feststellen, dass LU 7 völlig leer ist, ist eine schnelle und einfache Möglichkeit, diesen zu stärken, den Punkt zu halten und gleichzeitig durch Reiben des Bereichs unterhalb des Nabels die Hara-Atmung zu forcieren. Die Geschwindigkeit der Reaktion ist ziemlich beeindruckend. Deshalb, vergeuden Sie in diesem Herbst keine Zeit mehr mit dem x-ten Artikel über Metallenergie. Das wäre auf jeden Fall eine langatmige Lektüre, als ob es nicht Tausende von Themen gäbe, über die noch nicht geschrieben wurde. Tauchen Sie stattdessen ein in die tiefen Verläufe der Meridiane, Sie werden sehr inspiriert daraus hervorgehen.
Gutes Gelingen!
Autor: Ivan Bel
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Übersetzung: Karin Koers