Trauma berühren, Trauma verstehen – Teil 1

24 Aug., 2023
Reading Time: 8 minutes

Ein Trauma ist in der Regel das Ergebnis einer außergewöhnlich belastenden persönlichen Erfahrung, bei der die Möglichkeiten und Ressourcen des Einzelnen nicht ausreichen, sie zu bewältigen. Das hinterlässt langfristige Spuren. In der Persönlichkeit. In der Seele. Im Körper. Und im Energiesystem. Letzteres kann uns wertvolle Hinweise geben, wie wir traumatisierte Menschen mit Shiatsu bestmöglich berühren können. Denn die Spuren zeigen ein bestimmtes Muster: die Matrix des Traumas. Dies ist der erste Teil eines äußerst interessanten Artikels von Mike Mandl, den wir Ihnen zur Lektüre empfehlen.


Der Begriff Trauma kommt aus dem Griechischen τραῦμα und bedeutet Wunde oder Verletzung. In den fast 30 Jahren meiner Shiatsu-Praxis konnte ich viele davon in den verschiedensten Situationen berühren. Ich habe Shiatsu in einem Krankenhaus für Kinderpsychosomatik gegeben. Die Hintergrundgeschichten der kleinen Patienten können einem fast das Herz brechen. Gewalt. Misshandlung. Vernachlässigung. Noch dramatischere Geschichten erfuhr ich im Rahmen eines Projektes der International Academy for Hara Shiatsu. Mit behandelten Flüchtlingen, um ihnen bei der Integration zu helfen. Ihr Hintergrund: Krieg. Ermordung. Massenvergewaltigung. Folter. Der Verlust der ganzen Familie. Weit weniger emotional herausfordernd, aber nicht minder spannend war meine Arbeit in der Reha-Abteilung einer großen Klinik, wo der Schwerpunkt auf körperlichen Traumata lag, die als therapieresistent galten, schlicht und einfach weil die psychologische Komponente im herkömmlichen Ansatz nicht ausreichend berücksichtigt wurde.

All diese Tätigkeiten haben zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Konzept von Trauma geführt, was sich zu einem Schwerpunkt in meiner Praxis entwickelte. Hier konnte ich dieses so existenzielle Thema unter ganz verschiedenen Aspekten erforschen, von der Behandlung in Inzest-Selbsthilfegruppen über die Begleitung von Sterbenskranken bis hin zur Arbeit mit den stärker verbreiteten Traumata, die einem im Leben widerfahren können.

Und es ist nicht nur meine Erkenntnis: Per se lässt sich nur unscharf vorhersagen, welche Ereignisse bei welchen Menschen zu einem Trauma führen, denn viele Faktoren haben einen Einfluss darauf, ob es zur langfristigen Manifestation einer tiefgreifenden Verletzung in der Persönlichkeitsstruktur kommt oder nicht.

Dies hängt ab vom individuellen Entwicklungsprozess, vom Charakter, der psychischen und emotionalen Immunität, der Stabilität der Lebensumstände, den verfügbaren Ressourcen, der Resilienz, der Regulationsfähigkeit des Nervensystems, von Alter und Lebensabschnitt, ja sogar von der Fähigkeit, dem eigenen Leben einen tieferen Sinn zu geben, sowie der Verbindung zum Glauben oder zur Spiritualität. Darüber hinaus gibt es viele weitere Einflussfaktoren.

Nicht alles ist Trauma

Es ist ein überholter Ansatz, dass ein Trauma immer ein überwältigendes tragisches Ereignis sein muss. Natürlich haben schwere Unfälle, Gewalterfahrungen oder Naturkatastrophen ein hohes Potenzial für Traumatisierungen. Ein einziges Ereignis (Typ-I Trauma) kann so schockierend sein, kann in seiner Intensität so belastend sein, dass es für die betroffene Person keine Möglichkeit gibt, die entsprechende Situation direkt – und auch danach – zu verarbeiten. Aber auch weit weniger schwerwiegende Lebenserfahrungen können zu Traumata führen, die sich in ihrer gefühlten Wirkung und ihrer Symptomatik kaum unterscheiden. Erstreckt sich eine Summe negativer Erfahrungen mit hoher emotionaler Aufladung über einen längeren Zeitraum, kann dies ebenso weitreichende Spuren in Körper und Psyche hinterlassen (Typ-II Trauma) wie ein einzelnes schockierendes Ereignis. Viele dieser Typ-II-Traumata entwickeln sich in der Kindheit, weil Kinder viel weniger Möglichkeiten haben, mit schwierigen Situationen umzugehen als Erwachsene. In meiner Praxis konnte ich eine stetige Zunahme von Klienten mit Traumata des Typs II beobachten, insbesondere nach Beginn der Corona-Krise, vermutlich weil das Umfeld der Corona-Krise alle Zutaten enthielt, um schlummernde Traumata an die Oberfläche zu spülen.

Dennoch möchte ich an dieser Stelle eine klare Trennlinie ziehen, denn der Begriff Trauma wird im allgemeinen Sprachgebrauch und in den Medien oft inflationär und leichtfertig verwendet.

Es scheint in Mode zu sein, ein Trauma zu haben, und man spricht viel zu schnell von einem Scheidungstrauma oder einem Trauma am Arbeitsplatz, wenn Menschen herausfordernde Lebensumstände erleben. Belastende Situationen müssen aber nicht zwangsläufig zu einem Trauma führen, wenn man trotz der Stressbelastung handlungsfähig bleibt und längerfristig sogar daran wachsen kann. Dieser verallgemeinernde Sprachgebrauch ist ungerechtfertigt gegenüber all jenen, die wirklich schwere traumatische Erfahrungen gemacht haben und unter ausgeprägten Trauma-Symptomen leiden. Das gilt ebenso für die Begriffe Depression oder Burnout. Es gibt einen großen Unterschied zwischen einem Stimmungstief und einer echten Depression, ebenso wie es einen großen Unterschied zwischen Erschöpfung und einem echten Burnout gibt.

Traumatisierung hat größere Auswirkungen in der Kindheit

Das Yin und Yang des Nervensystems

Unabhängig von der persönlichen Situation und der Vorgeschichte eines jeden traumatisierenden Prozesses beeinflusst dieser unser Nervensystem auf eine ganz spezifische Weise. Das autonome Nervensystem hat – aus Sicht der TCM – einen Yin- und einen Yang-Aspekt. Der Yang-Aspekt wird durch das sympathische Nervensystem repräsentiert und versetzt uns in einen Zustand erhöhter Aktivität. Es steuert unser Erregungspotenzial.

Das parasympathische Nervensystem repräsentiert den Yin-Aspekt und ist für jede Form der Beruhigung zuständig. Wie bei Yin und Yang ist ein dynamischer und rhythmischer Wechsel zwischen diesen beiden Aspekten Ausdruck eines gesunden Gleichgewichts, und dieser Wechsel sollte innerhalb einer bestimmten Toleranzspanne stattfinden. Um diesen Prozess zu verstehen, können wir mit einem Bild arbeiten: Es gibt eine Decke. Und einen Boden. Wenn sich Aktivierungs- und Entspannungsphasen innerhalb dieser Grenzen bewegen, ist alles in Ordnung. Wie weit diese Grenzen gesetzt sind, ist wiederum individuell verschieden und bestimmt, wie stressresistent und belastbar wir sind. Ist der Abstand zwischen Decke und Boden gering, kann die Kurve schnell durch die Decke oder den Boden schießen. Bei großem Abstand hingegen ist genügend Puffer vorhanden, um auch starke Belastungsspitzen abzufangen. Dieses Toleranzfenster wird vor allem in den ersten Lebensjahren geprägt, insbesondere durch das Verhältnis zu engen Bezugspersonen.

Translation of the graph:

  • Window of Tolerance: Toleranzfenster
  • Self regulation of the nervous system is possible – Selbstregulierung des Nervensystems ist möglich
  • Self regulation is no longer… – Selbstregulierung des Nervensystems ist nicht länger möglich. Die Schweitelpunkte liegen weit außerhalb des Toleranzfensters und können nicht kontrolliert werden
  • Chronic exitation – chronische Überreizung

Kennzeichnend für ein traumatisierendes Ereignis ist, dass das sympathische Nervensystem durch die Decke schießt. Eine wie auch immer geartete Bedrohung aktiviert den Kampf-, Flucht- oder Erstarrungsmechanismus (fight, flight, freeze) über seinen Toleranzbereich hinaus, so dass eine bewusste Kontrolle nicht mehr möglich ist. Die Folge ist ein Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht. Ein überwältigendes Gefühl, das keinen Handlungsspielraum mehr zulässt. Das sympathische Nervensystem pumpt Energie in den Körper, die aber nicht umgesetzt werden kann. Es ist, als würde man Hochspannung durch ein Leitungssystem jagen, das dafür nicht gemacht ist. Das Leitungssystem ist völlig überlastet. Die Sicherungen brennen durch. Das Drama des Traumas: Selbst wenn die auslösende Situation vorbei ist, bleibt das entlastende Stoppsignal des Körpers aus. Der Zustand beginnt sich zu manifestieren, ausgehend vom Nervensystem, über den Körper bis hin zu Geist und Seele. Und dort kann er sich einnisten und weitreichende Folgen für die gesamte Lebensführung mit sich bringen. Über Jahre. Über Jahrzehnte. Die Betroffenen sind meist ganz normal in den Alltag integriert. Aber für sie ist es kein normaler Alltag. Es ist eine große Herausforderung – wie das Fahren mit angezogener Handbremse. Es ist möglich, aber mit viel mehr Aufwand und mit viel Reibung.

Dies ist natürlich eine sehr vereinfachte Darstellung des Trauma-Prozesses, aber er beschreibt die entscheidenden Mechanismen und hilft uns, das Thema Trauma aus der Shiatsu-Sicht zu verstehen.

Die energetische Struktur des Traumas

Im Zusammenhang mit den primären Überlebensmechanismen verhält sich das Nervensystem in einer charakteristischen Weise, unabhängig von den verschiedenen Auslösefaktoren. Und auch unser Energiesystem zeigt spezifische Muster, da der Körper und unser Energiesystem nicht voneinander getrennt werden können. Es ist eine Kettenreaktion, die in den Nieren beginnt. Aus Sicht der TCM wirkt sich jede Form von Unsicherheit, Angst oder Schock auf unsere Nieren aus. Dies wiederum aktiviert das Partnerorgan, die Blase, die mit ihrem Meridianverlauf das sympathische Nervensystem steuert. Die Blase aktiviert den Kampf- und Fluchtmodus – ein völlig normaler Vorgang. Innerhalb der Toleranzgrenze kann sich das System selbst wieder regulieren. Doch bei einem Trauma sieht die Sache anders aus.

Die Blasenenergie schießt durch das Dach. Die Nierenenergie rasselt in den Keller. Eine massive Überaktivierung bei gleichzeitiger tief empfundener Angst. Das ist die Ausgangssituation.

Die Blase hat zu viel Energie. Die Niere hat zu wenig Energie. Als Folge der Daueranspannung des Blasenmeridians ist die Erregungsschwelle des zentralen Nervensystems deutlich niedriger als vor dem traumatisierenden Ereignis. Dies geht oft mit einer Überempfindlichkeit einher, die den in den Nieren gespeicherten Angstzustand schon bei kleinen Reizen reaktivieren kann. Dies wird als Hyper-Erregung bezeichnet. Selbst vermeintlich unbedeutende Auslöser wie ein bestimmtes Geräusch, ein spezifischer Lichteffekt, ein Geruch, eine Nachricht oder ein Foto können einen unverhältnismäßig hohen Erregungszustand auslösen. Dieser Zustand kostet eine enorme Menge an Energie, die den Nieren – unserem Speicher der Essenz Jing – entzogen wird.

(Fortsetzung folgt)


Autor

Mike Mandl
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Übersetzer

Karin Koers
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