Interview mit Wilfried Rappenecker: eine europäische Vision für Shiatsu

15 Nov., 2023
Reading Time: 18 minutes

Wilfried Rappenecker ist einer der Giganten des europäischen Shiatsu. Sein Name ist eng mit dem deutschen und schweizerischen Shiatsu verbunden, ebenso wie mit dem bedeutenden „Atlas des Shiatsu“, der inzwischen in der 4. Auflage. Von Beruf Arzt, beschloss er, Shiatsu zu seinem Beruf zu machen, und dann hatte er eine Vision: Es muss möglich sein, ein europäischen Shiatsu zu entwickeln, das sich notwendigerweise von dem japanischen unterscheidet. So rief er den Europäischen Shiatsu-Kongress ins Leben, der sich im Laufe der Jahre zum größten Shiatsu-Kongress in Europa entwickelt hat. Entdecken Sie einen Mann des Shiatsu (Schüler, Praktiker, Lehrer), der viel für die Entwicklung von Shiatsu getan hat.


Ivan Bel: Lieber Wilfried, vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast, zu diesem Interview zu kommen. Und als Einstieg würde ich mich sehr freuen, wenn du mir etwas über deine Anfänge im Leben erzählen würdest.

Wilfried Rappenecker: Ich bin in der Nähe von Köln auf dem Land geboren. Wir waren eine Familie mit acht Kindern und ich war das fünfte Kind. Später sind wir dann nach Köln gezogen, wo ich meine Jugend und die erste Hälfte meines Medizinstudiums verbracht habe. Dann lebte ich 12 Jahre lang in Berlin, studierte dort Medizin und arbeitete in einem Krankenhaus. Schließlich landete ich in Hamburg, wo ich immer noch lebe. Zwischen dem 24. und 33. Lebensjahr bin ich viel gereist, mehrmals war ich für ein ganzes Jahr weg und auf allen Kontinenten. Ich habe auch ein halbes Jahr in New York City verbracht, um dort bei Ohashi Shiatsu zu lernen.

Als du Medizin studiert hast, welche Fachrichtung hast du gewählt?

Ich habe mich auf Allgemeinmedizin spezialisiert und dafür ein spezielles Diplom erworben, und als solches habe ich bis Anfang der neunziger Jahre gearbeitet. Ich wollte in die Entwicklungshilfe gehen und habe deshalb 8 Jahre in verschiedenen Abteilungen wie Anästhesie, Innere Medizin, Gynäkologie und Geburtshilfe sowie Chirurgie gearbeitet, um mich auf eine Tätigkeit in Afrika vorzubereiten.

Wie begann dein Abenteuer mit Shiatsu?

Alles begann, als ich im Frühjahr 1981 nach Kalifornien reiste, um dort Urlaub zu machen. Ich verbrachte eine Woche in Esalen, einem Ort an der Pazifikküste zwischen L.A. und San Francisco, aus dem neben vielen anderen Dingen auch die Esalen-Massage hervorging. Dort sah ich Leute, die auf dem Sonnendeck über der Pazifikküste Massagen gaben. Das sah großartig aus! Als ich nach Hause kam, sagte ich zu einer Freundin: „Ich möchte Massage lernen“. Das lag wohl daran, dass ich einfach berühren wollte. Weißt du, auf einer Intensivstation wie der, auf der ich damals arbeitete, berührt man die Patienten nie wirklich. Wir berührten sie zwar bei der körperlichen Untersuchung, aber nicht im ärztlichen Alltag auf solch einer Station und auch kaum bei der Pflege. Dort wird alles berechnet: Ernährung, Medikamente, künstliche Beatmung und so weiter. Aber wir haben sie nicht berührt, waren nicht wirklich bei ihnen.

Das Gebäude des Esalen-Kurortes, das später zum Esalen-Institut wurde, war in den 60er und 70er Jahren der Geburtsort einer Reihe von Massage Arten, einschließlich der Esalen-Massage.

Diese Freundin war Journalistin und arbeitete oft in New York City. Als ich ihr erzählte, dass ich Massage lernen wollte, schlug sie vor: „Dann mach doch einen Kurs bei diesem japanischen Meister, den wir in New York haben; Massage kannst du auch danach noch lernen“. So begann ich im August 1981 in Berlin bei Ohashi selbst (lesen Sie hier das Interview mit Wataru Ohashi). Er kam aus New York. Es war ein großer Kurs, etwa 40 begeisterte Schüler. In den frühen 80er Jahren war das etwas Besonderes. Nach diesem Kurs sagten andere Freunde zu mir: „Jetzt hast du einen Weg für dein ganzes Leben gefunden“. „Seid ihr verrückt?“ antwortete ich, „ich bin Arzt und ich liebe meinen Beruf“. Ich arbeitete weiter in verschiedenen Krankenhäusern, aber 6 Jahre später, 1987, beschloss ich, Shiatsu zu meinem Beruf zu machen.

1989 bei einem Workshop von Ohashi (C) W. Rappenecker

Was hat Sie zu dieser großen Entscheidung bewogen?

Nun, weißt du, ich musste es einfach tun, es war so etwas wie eine starke Stimme in mir während dieser sechs Jahre, eine Stimme, die hier und da in meinem Kopf arbeitete, bis ich von der Bedeutung von Berührung überzeugt war und es einfch tun musste.

Wie lange hast du bei Ohashi Sensei studiert?

Von 1981 bis 1984, in Berlin und in NYC, und dann habe ich ihn in Hamburg zu einigen seiner Workshops eingeladen. Denken Sie daran, dass wir in den frühen 80er Jahren waren. Damals wussten noch nicht viele Menschen über Shiatsu Bescheid. Ohashi hatte einen großen Einfluss auf Shiatsu in den westlichen Ländern, weil viele der heute älteren und erfahrenen Shiatsu-Lehrer durch seine Ausbildung gegangen sind.

Studiengruppe mit Ohashi, August 1983. Roter Pfeil oben: Wilfried Rappenecker. Unten: Wataru Ohashi (C) W. Rappenecker

Am Ende der Ausbildung in NYC dachte ich, dass ich immer noch nicht verstanden hatte, was Shiatsu ist. Also beschloss ich, meine Studien fortzusetzen, und so lernte ich meinen nächsten Lehrer kennen, Saul Goodman [i]. Er lernte Shiatsu erstmals von Michio Kushi und danach auch bei Ohashi, darum war seine Ausbildung der von Ohashi sehr ähnlich, allerdings kombiniert mit Makrobiotik, den Saul ist von Makrobiotik begeistert. Durch das Studium bei Saul habe ich viel gelernt, über gesunde Ernährung und wie man mit dem Leben umgeht… Aber mein Interesse galt eindeutig in erster Linie dem Shiatsu.

Einen Moment. Du warst in Hamburg, im Norden von Deutschland, und bist nach Kiental in der Schweiz gefahren? Ich habe mir die Entfernung zwischen den beiden Orten angeschaut, und es sind mehr als 1000 km. Du hattest keine Angst, dich auf den Weg zu machen? Warum bist du dorthin gegangen?

Ich wollte einfach mehr über Shiatsu lernen und verstehen. Deshalb habe ich diese zweite Ausbildung gemacht. Damals gab es noch nicht viele Shiatsu-Schulen in Europa. Später unterrichtete ich Anatomie, Physiologie und Pathologie an der International School of Shiatsu Kiental, bis Saul mich bat, dort Ausbildungskurse zu unterrichten. So wurde ich Shiatsu-Lehrer.

Ohashi sensei bei einer Shiatsu-Behandlung des Abtes des Dai Bosatsu Zendo im August 1983 (C) W. Rappenecker

Sie waren also ein junger Mann im Shiatsu in Hamburg. Was haben Sie damals gemacht?

Ich habe eine Shiatsu-Schule in Hamburg eröffnet. Ich erinnere mich noch gut, es war der Freitag, der 30. Februar 1987, ein Vollmondabend. Es stimmt, es war wirklich Vollmond an diesem Freitag den 13., ich habe es später nachgeprüft (lacht). Diese Schule hatte zwei Unterabteilungen, eine in Hamburg, die andere war in Berlin, geleitet von Elli Mann-Langhof. Der Berliner Teil wurde bald geschlossen, in Hamburg jedoch wuchs die Schule im Laufe der Jahre und ist heute noch sehr aktiv.

Wie kam es zur Gründung der Internationalen Shiatsu-Schule in Kiental? War es die Idee von Saul Goodman?

Nun, nicht ganz. Eigentlich ist es das Baby des Kientalerhof-Teams, das sich damals ganz der Makrobiotik verschrieben hatte. Es war eine Gruppe von Leuten, die 1985 den Kientalerhof als makrobiotisches Institut gründeten. Einer dieser Leute war Mario Benetti, der immer noch im Kientalerhof tätig ist. Wissen Sie, Shiatsu war in den 70er, 80er und frühen 90er Jahren[ii] in makrobiotischen Kreisen besonders beliebt. Dieses Team lud Saul Goodman ein, eine Shiatsu-Ausbildung in Kiental anzubieten, was er zusammen mit vielen anderen Lehrern wie Ray Ridolfi und anderen tat.

Können Sie mir bitte mehr über Mario Benetti erzählen?

Er war ein Anhänger der Makrobiotik, und ist es in gewisser Weise immer noch. Er und eine Gruppe von Leuten beschlossen, ein altes Hotel, den Kientalerhof, zu kaufen und es als ein makrobiotisches Institut zu betreiben, und dort mitten in den Schweizer Bergen Workshops zu organisieren. Wissen Sie, es ist sehr schwierig, ein solches Projekt finanziell erfolgreich zu betreiben. Tatsächlich ging das Hotel zweimal in Konkurs. Jedes Mal hat Mario das Abenteuer neu gestartet und es größer gemacht als zuvor. Ohne ihn würde es den Ort gar nicht geben. Und das ist fantastisch, denn wie Sie gesehen haben, ist der Ort unglaublich schön.

Ich liebe es, dort zu sein. Seit 1986 bin ich 3 oder 4 Mal im Jahr nach Kiental gereist. Nachdem ich Direktor der Kiental-Schule wurde, fuhr ich bis zu 7 Mal im Jahr dorthin. Die Menschen, die hier Shiatsu gelernt haben, müssen also den Eindruck haben, dass ich schon immer da war, ein Teil des Inventars.

Was genau war Ihre Idee hinter der Gründung des Europäischen Shiatsu-Kongresses?

Im Jahr 2000 war ich auf einem Shiatsu-Symposium mit 5 japanischen Meistern in Berlin. Am Ende dieses Symposiums dachte ich, dass sich die europäischen Lehrer versammeln und zeigen sollten, was sie der Shiatsu-Welt zu bieten haben. Ich schlug Mario Benetti einen Europäischen Shiatsu-Kongress vor, und er akzeptierte die Idee sofort. Und so begann der 1. ESC im Jahr 2004.

4. ESC 2014 in Kiental: Wilfried zusammen mit seiner Frau Kerstin sowie Eszter und Laszlo aus Budapest (C) W. Rappenecker

Warum wollten Sie das europäische Shiatsu und seine Lehrer fördern?

Damals, in den frühen 2000er Jahren, war das europäische Shiatsu noch nicht so vernetzt wie heute, und man wusste nahezu nichts über die Situation von Shiatsu in den anderen europäischen Ländern. Auf dem Berliner Symposium haben alle auf die japanischen Meister geschaut und gesagt, dass sie großartig sind, und das waren sie auch. Aber kaum jemand schien die Stärke und die Erfahrung von uns Europäern im Shiatsu zu sehen. Shiatsu wurde in Europa in den 70er Jahren eingeführt, also 30 Jahre vor diesem Symposium. Entsprechend gab es auf dem Symposium Teilnehmer, die 20, 25 oder sogar 30 Jahre lang Shiatsu praktizierten. Die Japaner jedoch versorgten uns auf diesem Symposium nur mit Anfänger-Shiatsu – wie es die japanischen Senseis traditionell tun.

Natürlich hatten einige europäische Lehrer und Praktiker bereits ein internationales Niveau erreicht, wie Cliff Andrews [iii], Carola Beresford-Cook, Bill Palmer oder Chris Jarmey [iv] zum Beispiel. Aber es waren nur einige wenige. Für mich lag das Haupthindernis bei der Entwicklung eines europäischen Shiatsu-Verständnisses in der Tatsache, dass wir uns zu sehr an der japanischen Tradition orientierten. Damals waren die Praktizierenden und auch viele Lehrer nicht selbstbewusst genug, um ihr Shiatsu auf ihre eigene Weise weiterzuentwickeln. Nach meinem Verständnis reichte ein esoterisches „Shiatsu ist wunderbar“ nicht mehr aus; das therapeutische Potential von Shiatsu wartete darauf, auf kreative Weise entwickelt zu werden. Eine solche Entwicklung musste nicht nur unseren japanischen Lehrern folgen, sondern einen neuen europäischen Weg finden, der sich von dem japanischen unterscheidet. Für dieses Ziel schien es notwendig, dass wir Europäer viel direkter miteinander kommunizieren und nicht ausschließlich indirekt über unsere japanischen oder amerikanischen Lehrer. In der Europäischen Kultur erfahren wir unseren Körper und beispielsweise körperlichen oder seelischen Schmerz anders als Japaner und wir gehen anders damit um. Darum brauchen wir unseren eigenen Weg im Shiatsu.

Dies waren die Hauptgründe, warum ich mich entschlossen habe, diese europäischen Kongresse ins Leben zu rufen, und bei den ersten 4. ESC wurden keine japanischen oder amerikanischen Lehrer eingeladen. Das ist nicht gegen unsere Lehrer aus dem Ausland gerichtet, ganz und gar nicht. Wir brauchten nur unseren eigenen Raum, um den Mut zu entwickeln, unseren eigenen europäischen Weg zu gehen.

Als ich Ende der 90er Jahre ein junger Shiatsu-Student in Frankreich war, hörte ich immer, dass wir nach Japan oder Deutschland gehen sollten, wenn wir eine gute Shiatsu-Ausbildung haben wollten. Sie galten zu diesem Zeitpunkt als die Spitze des europäischen Shiatsu.

Ehrlich gesagt, bin ich mir da nicht so sicher. Die Hauptentwicklung im europäischen Shiatsu fand damals in Großbritannien statt. Viele Jahre lang waren die Lehrer und Schulen dort in Sachen Shiatsu weiter fortgeschritten als in anderen europäischen Ländern. Später jedoch änderte sich das.

Vor einer Minute sprachst du über die europäische Art, Shiatsu zu praktizieren. Was bedeutet das und was ist die Stärke dieses europäischen Shiatsu?

Auf dem 7. Europäischen Shiatsu-Kongress, der im vergangenen Jahr 2023  in Kiental stattgefunden hat, hast du gesehen, wie viele großartige Lehrer wir hier in Europa haben, und dass sich das Verständnis und die Interpretation von Shiatsu in Europa erheblich weiter entwickelt hat. Ich denke, dass der ESC eine wichtige Rolle in dieser Bewegung gespielt hat, indem er Menschen zusammengebracht hat und so den Austausch untereinander, auch über die Landesgrenzen hinweg, unterstützt hat.

Dieses europäische Shiatsu entwickelt sich in verschiedene Richtungen, was sehr interessant zu beobachten ist. Einige Shiatsu-Lehrende sind sehr konservativ und orientieren sich vor allem an der japanischen Tradition. Andere sind offener dafür, ihre eigene Sensibilität zu entwickeln, und versuchen, das zu finden, was für sie richtig ist. Natürlich arbeiten die Europäer im Vergleich zu den Japanern anders, denken anders, gehen anders mit Gefühlen oder Schmerz um und haben eine andere Einstellung zum Leben. Es ist also völlig normal, dass wir nicht so handeln und fühlen wie Japaner. Dann ist es natürlich, dass auch ihr Verständnis und ihre Praxis von Shiatsu anders sein müssen.

Diese Entwicklung hat stattgefunden und findet auch jetzt noch statt. Wir entwickeln zum Beispiel neue technische Ansätze im Shiatsu, wir untersuchen die Beziehung zwischen Geber und Empfänger aus westlicher Sicht wie beispielsweise die Phänomene von Übertragung und Gegenübertragung, wir erforschen die Natur der intuitiven Arbeit, wie man im Shiatsu mit traumatisierten Menschen arbeiten kann und so weiter. Heute können wir ganz bestimmt darüber sprechen, was Europa der Shiatsu-Welt zu bieten hat.

Aber denken Sie nicht, dass wir uns zu weit von den japanischen Wurzeln entfernen? Einige Meister sagen, dass sie Shiatsu nicht mehr erkennen.

Einige von ihnen sagen das tatsächlich, aber andere sagen, dass wir definitiv etwas Neues zu bieten haben. Sie können also beides hören. Und natürlich ist unser Shiatsu anders. Ich habe Kobayashi Sensei, einem älteren Lehrer der Namikoshi-Schule, eine Behandlung gegeben, er war damals 75 Jahre alt, und nach der Behandlung sagte er mir: „Ich weiß nicht, was das war, aber es war sehr gut“.

Ich hatte dieses Gespräch mit Lehrern der Namikoshi Shiatsu Schule in Tokio, und sie sagten mir, dass sie sehr gerne nach Europa kommen würden, um sich die Entwicklung anzusehen. Ich bin sicher, dass wir uns darüber irgendwann einmal austauschen werden.

Aber lass mich zu einem anderen Thema kommen. Du bist Autor mehrerer Bücher, von denen der Shiatsu-Atlas das bekannteste ist. Ich weiß, dass es ein großes Abenteuer ist, ein Buch zu schreiben, aber dein Atlas ist ein dickes. Erzähl mir, wie es gelaufen ist.

Zunächst einmal ist es wichtig, dass ich nicht der alleinige Autor des Atlas des Shiatsu bin. Ich habe ihn zusammen mit Meike Kockrick geschrieben, einer leitenden Lehrerin unserer Schule für Shiatsu in Hamburg. Ich hatte Meike gebeten, mich bei diesem Projekt zu unterstützen, weil es sich für mich allein etwas zu groß anfühlte, und ich außerdem jemanden brauchte, mit dem ich zu allen Details austauschen und darüber diskutieren konnte. Ich beschloss, den Atlas zu beginnen, nachdem ich Masunagas Meridianflüsse seit etwa 14 Jahren in verschiedenen Schulen unterrichtet hatte. Ich wollte das ganze Material, das ich im Laufe der Jahre für diese Lehre entwickelt hatte, nicht verlieren und es in gewisser Weise in einem solchen Buch zusammenfassen. Es war eine dreijährige intensive Arbeit zusammen mit Meike. Und natürlich mit dem Verlag, vor allem in der Arbeit an den Illustrationen. In der ersten Auflage von 2008 gab es viele Fehler. Zum Glück haben uns die Leser darauf aufmerksam gemacht und uns so geholfen, diese Fehler zu korrigieren. Jetzt sind wir bei der 4. Auflage, und jetzt ist es ein sehr guter Atlas des Shiatsu.

In einem Punkt waren wir jedoch enttäuscht. Im Vorwort haben wir den Wunsch geäußert, eine lebhafte und fruchtbare Diskussion über den Inhalt des Atlasses zu führen. Aber niemand ist auf uns zugekommen, und es hat in all den Jahren überhaupt keine Diskussion stattgefunden. Weißt du, wenn man einen solchen Atlas schreibt, muss man entscheiden, wo genau man die Meridiane platziert, insbesondere Masunagas Ergänzungen. Masunaga hat sein Werk nie vollendet, und wir wissen nicht, wo genau er sie verortet hat. Er hat sie nie im Detail beschrieben, deshalb gibt es oft verschiedene Möglichkeiten. Wir mussten anhand der ungenauen Masunaga-Meridiankarte, aber auch aufgrund unserer eigenen Erfahrung in Unterricht und Praxis entscheiden.

Für mich ist es sehr wichtig, dass wir Shiatsu-Praktizierende frei und offen darüber sprechen, wie wir Shiatsu und die Meridiane sehen und auch darüber, wo wir anderer Meinung sind als andere. Nicht um die anderen zu kritisieren, das macht keinen Sinn, sondern um sicher zu sein, dass wir in der Lage sind, andere Ansichten zu sehen, zu akzeptieren und daraus zu lernen.

Es ist sehr interessant, dass du zu einer Diskussion aufrufst, denn euer Buch, vielleicht zusammen mit dem von Carola Beresford-Cooke, sind die beiden wichtigsten in Europa. Nicht jeder ist offen dafür, über seine Arbeit offen zu sprechen. Ich hoffe, du wirst nach diesem Interview E-Mails erhalten. Und sag mal, glaubst du als Arzt, dass Shiatsu reif genug ist, um mit der medizinischen Welt zusammenzuarbeiten?

Ja, ich glaube, Shiatsu ist mehr als reif dafür. Ich glaube aber nicht, dass die Medizin Shiatsu schon ausreichend sieht. Shiatsu hat der Medizin etwas zu bieten, aber es ist sehr schwierig, einen Fuß in die Tür zu bekommen, damit wir Shiatsu zum Beispiel in Krankenhäusern anwenden können und Ärzte die positive Wirkung von Shiatsu in Heilungsprozessen erkennen können. Ich wünsche mir für die Zukunft, dass dies geschieht, dass wir die Chance haben, zu beweisen, dass Shiatsu nicht nur gesunde Menschen unterstützt, sondern gerade auch kranke Menschen. Shiatsu unterstützt die Heilung nach einer Operation, einem Unfall oder bei Patienten, die an Krebs oder einer anderen schweren Krankheit leiden, bei der Bewältigung von medizinischen Behandlungen wie Bestrahlungen oder hilft Patienten, einen Weg aus einer psychischen Krise zu finden. Shiatsu hat so viel zu bieten.

Um in diese Richtung zu gehen, brauchen wir Studien, denn sonst werden wir von der Medizin und unserer Gesellschaft nicht wahrgenommen. Dafür müssen wir Geld auftreiben, und das ist eine weitere Schwierigkeit.

Shiatsu-Behandlung im Jahr 2006 (C) W. Rappenecker

Wie siehst du aus Ihrer langjährigen Erfahrung heraus den Stellenwert von Shiatsu in der heutigen Welt?

Nun, für diejenigen, die es kennen, ist es ein großartiges Werkzeug für den Alltag. Sowohl für diejenigen, die sich in einer schwierigen Lebenssituation befinden, aber auch für Menschen, denen es gut geht. Wir können mit Klienten arbeiten, die völlig gesund sind, aber auch mit Menschen, die schwer krank sind. Sie alle können wir auf ganz unterschiedliche Weise unterstützen.

Ein anderes Beispiel: In Schulen sollte neben allen anderen Aktivitäten auch Shiatsu angeboten werden. Die Erfahrungen mit Shiatsu in Schulen zeigen, dass es den Kindern sehr hilft, ruhiger zu werden, sozialer zu werden usw. – nicht nur für Kinder mit Anzeichen von ADHS. Shiatsu ist ein so kraftvolles Werkzeug für so viele verschiedene Situationen im Leben, wenn wir wissen, wie man es richtig einsetzt. Es bedarf einer guten Ausbildung und viel Praxiserfahrung, um sein Potenzial zu verstehen und zu erkennen. Darin liegt die Schwierigkeit. Ich hoffe sehr, dass wir in Zukunft in unserer eigenen Entwicklung weiter vorankommen und mehr und mehr von der Medizin und der Gesellschaft anerkannt werden.

Was wir jetzt brauchen, sind Praktiker, die bereit sind, viel Energie darauf zu verwenden, unserer Arbeit einen immer professionelleren Rahmen zu geben. Das ist es, was in Deutschland gerade jetzt besonders gebraucht wird. Wo ist die neue Generation der Lehrenden, Praktizierenden und Studierenden, die sich trauen, aufzustehen, sich zu zeigen und die Entwicklung kraftvoll voranzutreiben? Vielleicht kann die Schweiz, wo Shiatsu seit 2015 als komplementäre Therapie staatlich anerkannt ist, ein Vorbild für uns sein.

Ich danke dir vielmals. Es war mir ein Vergnügen und ein Gespräch, das mich zum Denken anregt. Ich hoffe, wir können uns bald wiedersehen.

Auch ich danke dir. Es macht mir Freude, über diese Seiten der Geschichte des Shiatsu in Europa zu sprechen.

Gartenarbeit in der Hamburger Schule, 2009 (C) W. Rappenecker

Anmerkungen

  • [i] Saul Goodman ist einer der bekanntesten amerikanischen Shiatsu-Lehrer. Er gründete die International Shiatsu School, lehrte Shiatsu und Shin Tai Körperarbeit. Er ist unter anderem der Autor von „The book of Shiatsu“.
  • [ii] Makrobiotik wurde von George Ohsawa gegründet. Er interessierte sich für Shiatsu, und die Konvergenz der Techniken wurde insbesondere durch die Arbeit von Shizuko Yamamoto und Michio Kushi erreicht. Die Makrobiotik war eine der wichtigsten Triebfedern für die Verbreitung von Shiatsu im Westen.
  • [iii] Cliff Andrews war auch einer der ersten und einflussreichsten europäischen Lehrer, die Shiatsu auf dem gesamten Kontinent sowie in Australien und den USA verbreiteten. Er war Schüler von Pauline Sasaki und gründete das UK Shiatsu College und die Zen Shiatsu Chicago Faculty.
  • [iv] Chris Jarmey ist ein international bekannter Lehrer und Gründer der Schule. Er studierte direkt bei Pauline Sasaki, bevor er 1985 die Europäische Shiatsu-Schule gründete. Obwohl er inzwischen verstorben ist, haben viele unserer heutigen Lehrer direkt bei ihm studiert und von seinem Fachwissen profitiert. Er hat viele anerkannte Texte über Shiatsu, Qi Gong und Anatomie geschrieben.


Autor

Ivan Bel

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