Im Jahr 2017 fand im Rahmen des europäischen Shiatsu-Kongresses[1] ein spannender Diskurs zu den Unterschieden zwischen traditionellem und modernem Shiatsu statt. Ziel der Diskussion war es, die Unterschiede zwischen den Wurzeln und den Entwicklungen im heutigen Shiatsu zu beleuchten und zu klären, ob es eine Tradition im Shiatsu gibt oder nicht. Selbst für langjährige Shiatsu-Praktizierende ist diese Frage nicht eindeutig zu beantworten. Dennoch gibt es eine Tradition im Shiatsu. Werfen wir einen Blick auf die Details.
Überall auf der Welt gibt es Schulen oder Stile, die sich als traditionelles Shiatsu bezeichnen. Doch auf die Frage „Was ist Tradition?“ ist die Antwort entweder verlegenes Schweigen oder ein Verweis auf die Namikoshi-Schule, alle anderen seien nur Ableitungen und spätere Entwicklungen. Doch Tokujiro Namikoshi war nicht der erste, der in Japan Fingerdrucktechnik praktizierte. Während der Konferenz in Wien fiel es den Diskussionsteilnehmern schwer, herauszufinden, was Tradition im Shiatsu bedeutet und zwei spezifische Fragen zu beantworten:
- Wann beginnt die Tradition?
- Wie definiert man Tradition vom technischen Standpunkt aus?
Bill Palmer vertrat die Meinung, dass die Tradition, die ihm am Herzen liegt, auf den chinesischen Taoismus und den Begriff des Wu Wei (Nicht-Handeln) zurückgeht und dass Shiatsu heute dazu neigt, zu vergessen, dass man den Körper des Klienten nicht zwingen sollte. Die Tendenz entwickle sich eher in Richtung einer manipulative Therapie (ähnlich der Physiotherapie), statt den Menschen auf seinem Weg durch die Transformation zu begleiten. Seiner Meinung nach lässt sich die philosophische und theoretische Tradition bis zum Taoismus zurückverfolgen, der Theorien beinhaltet, die der Kunst des Shiatsu zugrunde liegen (Yin-Yang, Erde-Mensch-Himmel usw.). Shiatsu hat jedoch vielerlei Wurzeln.
Historische Wurzeln
Ohne bis zu den chinesischen Wurzeln (seit 1120 v. Chr.) des Anmo-Tuina zurückzugehen, hat Japan seit dem fünften Jahrhundert seiner Geschichtsschreibung, der Zeit des ersten Austausches mit dem Festland, die Anma-Massage übernommen. Sehr schnell machten sich die Japaner mit der ihnen eigenen Findigkeit diese Techniken zu eigen, transformierten und bereicherten sie um neue Aspekte. Im Jahr 718 öffnete die erste medizinische Akademie für das Studium der Akupunktur ihre Pforten, gefördert von der damaligen Regierung. Es war aber auch möglich, „Jugonshi“ (呪 禁 師, d. h. Zauberspruch-Therapeut) oder „Anmashi“ (按摩師, Massagetherapeut) zu werden. Die Ausbildung dauerte drei volle Jahre und umfasste auch das Erlernen von Verbandstechniken und die Ausrichtung von Knochen und Gelenken. Im Jahr 984 schrieb Yasuyori Tamba das erste medizinische Buch, das jemals in Japan verfasst wurde, Ishinpō (医 心 方). Es deckte alle Gebiete der medizinischen Welt ab, einschließlich Anma.
In der Edo-Zeit (1602-1868) wurde die Hauptstadt von Kyoto nach Edo (Tokio) verlegt und die klassische japanische Kultur erreichte ihren Höhepunkt. Die Ankunft der Europäer veränderte die medizinische Landschaft und die Japaner öffneten sich für Anatomie und Physiologie. Akupunktur und Anma wurden zuerst den Niederländern beigebracht, die seit dem Ende der portugiesischen Präsenz Handel trieben, dann waren die Amerikaner, Franzosen, Engländer und Deutschen an der Reihe. Zu dieser Zeit durften auch Blinde Anma praktizieren. Ihre Tätigkeit wurde als Genko Anma (Entspannungsmassage) bezeichnet, im Gegensatz zur therapeutischen Version namens Koho Anma (古法 按摩). In dieser Zeit erschienen zwei wichtige Bücher:
- 1827 wurde „Anpuku Zukai“ (按 腹 圖解) von Shinsai Ōta, Yoshikoto Murata und Ryōsai Urabe veröffentlicht, das alle Techniken der Bauchmassage aus dem Anma zusammenfasst.
- 1835 erschien „Anma Tebiki“ (按摩 手 引) von Fujibayashi Ryohaku, der versuchte, die gesammelten Erfahrungsschätze der Anma-Massage zu retten.
Das erste Buch wird oft als die geistige Grundlage des Shiatsu angesehen und das zweite ermöglichte die Gründung der Schule Anma Fujibayashi Ryu (藤 林 流 按摩). Alle offiziellen Schulen, die folgten, sind aus dieser ersten Schule hervorgegangen. Ihre Bezeichnungen lauten:
- Sugiyama Ryu Anma (杉山 流 按摩), gegründet von Sugiyama Waichi
- Yoshida Ryu Anma (吉田 流 按摩), gegründet von Yoshida Hisashi
- Minagawa Ryu Anma (皆 川流 按摩), gegründet von Minagawa (?)
In der Meiji-Ära (1868-1912) wichen die Shogune den Imperialisten und dem westlichen Einfluss gelang es nicht, die traditionellen Künste, insbesondere im medizinischen Bereich, vollständig zu verdrängen. Die therapeutische Dimension sowie der Bezug zur chinesischen Medizin verschwanden vollständig aus der Anma-Massage und die westliche Physiotherapie nahm in den Köpfen der Japaner die führende Position als einzig wirksame Massage ein. Es war ein dunkles Zeitalter für alle japanischen Traditionen. Dennoch wurden in dem Bemühen, das Wissen der Vergangenheit und der Heilkunst wiederzuerlangen, in der Showa-Ära (1926-1989) zwei Bücher veröffentlicht:
- 1934 „Inyō gogyō setsu“ (陰陽 五行 說, Yin / Yang und die 5 Elemente) von Tadao Iijima, ein Versuch, chinesische Theorien wieder in den Vordergrund zu rücken.
- 1939 „Shiatsu Ryoho“ (指 圧 療法, Therapeutische Shiatsu-Methode) von Tenpeki Tamai, das die westlichen Vorstellungen von Anatomie und Physiologie integriert und alle Aspekte des therapeutischen Anma aufgreift.
Tenpeki Tamai ist der Begründer und Erfinder des Begriffs Shiatsu, und ab diesem Zeitpunkt wird der Begriff zum Beispiel von Tokujiro Namikoshi, Dr. Hirata und vielen anderen wiederholt. Doch auch Tamais Arbeit basiert selbstverständlich auf früheren Veröffentlichungen.
Kulturelle Wurzeln
Wie wir bisher gesehen haben, ist Shiatsu keine Schöpfung aus dem Nichts, sondern das Ergebnis einer historischen Entwicklung. Doch auch die japanische Kultur hat dem Shiatsu einen deutlichen Stempel aufgedrückt. Das zeigt sich zum einen in den Körperhaltungen, die denen des täglichen Lebens entsprechen, wie Seiza (Sitzen auf den Tatami) oder der Welt der Kampfkünste stammen, wie tateiza (ein Fuß flach und auf dem hinteren Fuß sitzend), was das Ziehen des Schwertes ermöglicht.
In der Welt der Kampfkünste, aber auch in Kunst und Handwerk werden auch heute noch dieselbe Körperstruktur und dieselben Bewegungen verwendet. Nehmen wir als Beispiel einen Kalligraphen. Er bewegt nicht seinen Arm, um ein Zeichen auf das Blatt zu schreiben, sondern koshi (die Hüften). Beim Ikebana beugen wir nicht den Rücken, um eine Blume zu pflücken, sondern wir beugen die Hüften. Um ein Brett in der traditionellen Tischlerei zu hobeln, verdreht man nicht den Rücken, sondern man legt immer die Hände vor das Hara, die Hüften gut geöffnet, um die Lendenwirbelsäule nicht zu verletzen. In den japanischen Künsten ist alles festgelegt, und der Körper reagiert auf diese Kodifizierung. Dieses traditionelle Erbe im Umgang mit dem Körper erklärt, warum man sich im Shiatsu nicht vorbeugt, den Rücken nicht verdreht und auch, warum die Haltungen sowie die mechanischen Bewegungen so präzise sind.
Und wieder müssen wir uns glücklich schätzen, denn ein Teil der körperlichen Tradition wurde im Shiatsu nicht übernommen, wie die Heilslehre, Etikette und Art der Fortbewegung. Zu letzterer muss man wissen, dass bis ins 19. Jahrhundert der Namba-Aruki-Marsch gang und gäbe war. Hierbei wurden die Arme gemeinsam mit der Körperseite bewegt, also Hand und Fuß zusammen auf einer Seite und nicht wie im Westen überkreuzt. Diese Art des Gehens ermöglichte es, immer eine Hand zum Ziehen des Katana (Schwertes) frei zu haben. In der Kampfkunst wird ein Schritt ausgeführt, indem der Fuß nach vorne geführt wird und erst der Vorderfuß und dann die Ferse aufgesetzt wird. Auch hier machen wir das Gegenteil.
Technische Wurzeln
Wenn es historische und kulturell-haltungsbezogene Wurzeln des Shiatsu gibt, so scheint es offensichtlich, dass auch die Shiatsu-Technik selbst einer Tradition entspringt. Es gibt 10 technische Bereiche im Anma, die jeder wahrscheinlich schon einmal verwendet hat:
- Keisatsu Ho (軽 擦 法): leichte Klopftechnik, auch bekannt als Anbu Ho (按 撫 法)
- Kyosatsu Ho (強 擦 法): Rotation & Reibung mit deutlichem Druck, auch bekannt als Annetsu Ho (按 捏 法), die man eher im Ampuku-Bereich findet.
- Junen Ho (柔 念 法): Knettechnik, auch bekannt als Junetsu Ho (柔 捏 法)
- Appaku Ho (圧 迫 法): Drucktechnik
- Shinsen Ho (振 せ 法): Vibrationstechnik, die zwei Zweige enthält
- Gaishin (外 振): äußere Schwingung
- Naishin (内 振): innere Schwingung
- Haaku Ho (把握 法): Griff- und Zugtechnik (wird im Shiatsu nicht verwendet)
- Koda Ho (卯 打法): harte Schlagtechnik (wird im Kuatsu verwendet)
- Kyokute Ho (曲 手法): harmonische, klingende weiche Schlagtechnik mit gefalteter Hand
- Undo Ho (運動 法): Bewegungen, Dehnungen und Neuausrichtung von Körperteilen aus dem Do-in Ankyo, das sich aus 5 Zweigen zusammensetzt:
- Jido Undo Ho (自動 運動 法): Eigene Bewegungen des Klienten kombiniert mit Geräten
- Tado Undo Ho (他 動 運動 法): Vom Therapeuten unterstützte Bewegungen
- Shincho Undo Ho (伸张 運動 法): Dehnungsmethoden
- Teiko Undo Ho (抵抗 運動 法): Ausdauertests, Körperübungen und Körperwiderstand
- Kyosei Ho (矯正 法): Strukturelle Diagnose von Knochen- und Gelenksausrichtung
- Kenbiki Ho (腱 引 法): Schaukeltechnik auf dem Tsubo
Diese Liste ist bereits beeindruckend und wir erkennen, dass Shiatsu tatsächlich der Erbe von Anma ist. Aber Shiatsu ist mehr als das, denn es umfasst darüber hinaus weitere Besonderheiten.
Der Appaku ho Teil (Druck) des Shiatsu soll mit Daumen oder Fingern an folgenden Punkten ausgeführt werden:
- Keiketsu Tsubo: Punkte auf den Meridianen
- Kiketsu Tsubo: Punkte außerhalb der Meridiane
- Aishi Tsubo: natürliche Punkte, die keinen Bezug zu den Meridianen haben (Beispiel: der Namikoshi-Punkt)
Zusätzlich zu den technischen Aspekten wird traditionell verlangt, dass man die folgenden Aspekte studiert, um Shiatsu zu praktizieren:
- Shindan: Diagnose auf der Grundlage von zwei Teilgebieten (So: pathologische Phänomene und Shin: individuelle Symptome)
- Anpuku: Baucharbeit
- Kyojitsu: Studium der Zustände von Leere und Fülle
- Hosha: Tonisierungs- und Sedierungsmethoden
- Zofu: Studium der inneren Organe
- Teate no michi: Behandlung durch Auflegen der Handflächen.
Es wäre hilfreich und interessant, dieser Aufzählung das Studium des Kuatsu, der Wiederbelebungstechniken, hinzuzufügen, aus denen die westliche Erste Hilfe hervorging. Aber dieses Wissen ist heute fast verloren und es ist sehr schwierig, einen Experten auf diesem Gebiet zu finden, während diese Disziplin noch in den 60er Jahren vom französischen Judo-Verband gelehrt wurde.
Schlussendlich sind die Schüler aufgefordert, die folgenden theoretischen Grundlagen zu kennen, die wir alle aufgrund des chinesischen Denkens kennen:
- In Yo Ho (陰陽 法): Theorie von Yin & Yang
- Ki (気): die Energie, die in drei Aspekte unterteilt ist:
- Ten Ki (天 気): Die Energie des Himmels
- Chi Ki (地 気): die Energie der Erde
- Jin Ki (人 気): menschliche Energie
- Gogyo Setsu (五行 說): Theorie der 5 Elemente
- Keiraku Chiryo (経 絡 治療): Behandlung der Meridiane
Nach all dem liegt die Schlussfolgerung auf der Hand: Es gibt in der Tat eine Tradition des Shiatsu, die sowohl kulturell (Einsatz der Körpers in Japan), historisch (Erbe des Anma und Arbeiten moderner Denker) als auch technisch (Erbe des Koho Anma) ist. Niemand ist verpflichtet, dieses vielfältige Erbe zu respektieren, und es ist natürlich, dass sich Shiatsu in viele Richtungen entwickelt. Das zeigt seine Dynamik und Vitalität. Es ist jedem freigestellt, die Shiatsu-Vision zu wählen, die ihn am meisten anspricht. Aber es ist auch wichtig für die eigene Weiterentwicklung, die eigenen Wurzeln und Erzählungen zu kennen.
Autor : Ivan Bel mit freundlicher Genehmigung zur Verwendung der Quellen von Billy Ristuccia (Website: Yotsume Dojo)
Übersetzung ins Deutsche: Karin Koers
Anmerkungen:
[1] Diese von Mike Mandl moderierte Diskussionsrunde mit den Gästen Bill Palmer, Gabriella Poli und Tomas Nelissen fand am 20. September 2017 in Wien statt.
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