In Europa noch relativ unbekannt, beginnt Yin Shiatsu sich einen Namen zu machen. Der Ursprung des Namens geht auf einen Mann zurück: Nobuyuki Takeuchi Sensei. Man kann ihn sich leicht als modernen Samurai vorstellen, kompromisslos in Bezug auf Verhalten, Hingabe und Studium. Werte, nach denen er sich in erster Linie selbst richtet. Doch was er in diesem Interview erzählt, gilt für alle Praktizierenden, die sich dem Weg des Shiatsu verschrieben haben. Eine Begegnung mit einem Meister, im wahrsten Sinne des Wortes.
Ivan Bel: Guten Tag Sensei. Danke, dass Sie unsere Einladung zu diesem Interview angenommen haben. Aus welcher Region Japans und aus welchem Umfeld kommen Sie?
Nobuyuki Takeuchi: Ich wurde in der Präfektur Fukushima, in der Ortschaft Yoshimaruyama, geboren. Ich wuchs in einer Bauernfamilie auf und war der jüngste von drei Söhnen.
Zu welchem Zeitpunkt Ihres Lebens haben Sie begonnen, sich für die therapeutischen Künste zu interessieren?
Das war ungefähr im Alter von 18 Jahren. Zu dieser Zeit hatte ich begonnen, die daoistischen Künste zu erlernen, vor allem die Ideen von Lao-Tzu (Laotse) und Chouang-Tzu (Zuangzi).
Wurden Sie in die Pharmakologie, die Kanpo-Medizin und die Akupunktur eingeführt? Welche Erinnerungen haben Sie an diese Jahre des Lernens?
Etwa zur gleichen Zeit begann ich, bei meinem Onkel zu lernen. Er war ein bewundernswerter Mensch. Meine Neigung zum taoistischen Gedankengut brachte mich jedoch dazu, Shiatsu, so wie es war, zu hinterfragen.
Mit dem Ziel, mein Ki zu entwickeln, um Patienten zu diagnostizieren und zu behandeln, fastete ich zwei Tage pro Woche und praktizierte täglich Zazen. Außerdem widmete ich mich dem „Fukukihō“ (服気法)[i], einer der drei Atemtechniken des Qi Gong.
Seitdem, also seit 30 Jahren, habe ich diese tägliche Routine beibehalten.
Sie haben 1978 die „Akahigedo“-Klinik gegründet, was übersetzt „Rotbart-Pavillon“ bedeutet. Ist dies eine Anspielung auf Akira Kurosawas Film Barbarossa [ii] von 1965? Wie hat Sie diese Figur inspiriert?
Die Figur des „Rotbarts“ ist ein Arzt aus der Edo-Zeit, den es wirklich gab [iii], eine Art Robin Hood aus Ihrer Heimat. Es ist vor allem seine Haltung, sein Gemütszustand, der mich inspiriert hat. Das Leiden des Patienten wird, wenn es nicht geheilt wird, zu meinem eigenen Leiden.
Ich muss daher an mir selbst arbeiten, zum Beispiel durch die Praxis des Fastens, und an meiner eigenen Entschlossenheit, um darauf reagieren zu können. Das ist der Weg des Bushido.
In welchem Jahr haben Sie Ihren eigenen Stil namens „Yin Shiatsu“ entwickelt? Was sind die Besonderheiten Ihrer Methode, die sie von anderen bestehenden Strömungen unterscheidet?
Als ich etwa 29 Jahre alt war, fasste ich den Entschluss, dass ich, wenn es mir nicht gelänge, innerhalb eines Jahres meinen eigenen Weg zu gehen und dabei eine außergewöhnliche Technik zu entwickeln, genauso gut Selbstmord begehen könnte, wie es der Schriftsteller Mishima tat [iv].
Diese extreme Festlegung brachte mich dazu, Yin Shiatsu in seiner heutigen Form zu gründen. Ich fand einen anderen Ansatz als das damals in Japan existierende Shiatsu, der es insbesondere erlaubte, durch distale Punkte zu behandeln, ohne die betroffenen Bereiche direkt zu berühren, oder Körperbereiche durch Formverwandtschaften zu verbinden.
Seit Jahren betreiben Sie Forschung, was zu einer interessanten Theorie geführt hat: die Dreiecksbeziehung. Könnten Sie sie uns bitte erklären?
Meiner Meinung nach sind die Ursprünge des Shiatsu sehr alt, lange vor der christlichen Ära. Die Theorie der Dreiecksbeziehung, die dem Yin Shiatsu zugrunde liegt, erschien mir wie eine Eingebung nach den regelmäßigen Praktiken des Fastens und der Reinigung in der freien Natur, von denen ich Ihnen erzählt habe.
Diese Eingebung brachte mich dazu, die bereits bestehende Theorie der Meridiane zu überdenken. Das war sehr bewegend für mich, weil nichts davon in den Ursprungstexten wie z.B. dem Huangdi Nei Jing erwähnt wurde.
Wenn Sie mehr darüber wissen wollen, lade ich Sie ein, Mehdi und Misako [v] näher kennen zu lernen, die in Straßburg leben und von meinem Unterricht profitiert haben. Und Sie werden auch die Gelegenheit haben, mehr zu erfahren, wenn ich nach Frankreich komme oder Sie selbst nach Tokio kommen.
Was ist Ihr Verständnis von Krankheit?
Meine Auffassung von Krankheit stammt aus der buddhistischen Idee „In Ga Ron“ (因果論). Es ist das „Gesetz der Kausalität“ oder „Gesetz von Ursache und Wirkung“, und der Begriff des Karma ist möglicherweise das Resultat daraus. Damit meine ich, dass eine Ursache zu einer Wirkung führt, aber das „In“ (縁) mit ins Spiel kommt. Dies kann man mit Schicksal/Bestimmung, Chance/Zufall übersetzen. „In“ bedeutet auch der richtige Ort zur richtigen Zeit mit der richtigen Person. Im vorliegenden Kontext geht es eher um die Entscheidung des Einzelnen angesichts der sich ihm bietenden Möglichkeiten, die er ergreifen wird oder nicht.
Dieselbe Denkweise lässt sich auch auf Krankheiten anwenden. Wenn ein Symptom auftritt, ist es wichtig, die Ursache, die Quelle des Problems zu ermitteln. Es ist jedoch auch wichtig, die Lebensentscheidungen zu wahrzunehmen, die eine Person ins Ungleichgewicht gebracht haben, und die Entscheidungen, die es ihr ermöglichen, das richtige Gleichgewicht wiederzuerlangen.
Ein Beispiel: Wenn ein Patient ein Risiko für Fettleibigkeit hat, kann es sein, dass er eine genetische Veranlagung hat, übergewichtig zu werden. Die Entscheidung des Patienten, um das scheinbare Schicksal abzuwenden, bestünde darin, nicht zu viel zu essen und sich besser zu ernähren.
Zu diesem Thema gibt es eine Vielzahl weiterer Beispiele.
Anders ausgedrückt: Bei der Behandlung konzentrieren wir uns oft auf die Ursachen und ihre symptomatischen Auswirkungen. Doch nur wenige versuchen jedoch, die Handlungen, Motivation und „negativen Gedanken“ des Patienten anzusprechen. Das eigene Verhalten zu ändern und die eigenen Lebensentscheidungen in die Tat umzusetzen sind der Schlüssel, der Hebel zur Veränderung des eigenen Schicksals.
Um dieses Prinzip des „In“ zu verstehen, müssen wir uns der Existenz unseres freien Willens (自由意志)[vi] bewusst sein. Damit meine ich, dass wir selbst, mit unserem Herzen, unserem Gewissen, entscheiden können, was für uns gut oder schlecht, richtig oder falsch, positiv oder negativ ist.
Ihre Behandlung ist fachübergreifend: Akupunktur, Shiatsu, Heilpflanzen usw. Warum haben Sie diese Auswahl getroffen, wenn sich zum Beispiel die meisten Akupunkteure nur mit Nadeln zufrieden geben?
Jeden Tag kommen viele Patienten mit den unterschiedlichsten Krankheiten in die Klinik: Depressionen, Krebs, Neurodermitis, Asthma, Frauenkrankheiten, Kinderkrankheiten…. Die Behandlung dieser verschiedenen Krankheiten ist eine große Herausforderung, und es reicht nicht immer aus, sie nur mit einer Technik zu behandeln: nur mit Akupunktur, nur mit Shiatsu oder nur mit Ernährungsberatung. Ich passe die Behandlung an das an, was notwendig ist, an die Schwerpunkte und Besonderheiten jedes einzelnen Falles.
Aus diesem Grund bietet Akahigedo ein umfangreiches Behandlungsspektrum an. Für mich zählt nur das Ergebnis. Ich habe keine Ausrede, wenn ich nicht in der Lage bin, eine Person zu behandeln. Das ist meine Lebensphilosophie.
Sie sind ein anerkannter Experte für chinesische Medizin und haben viele chinesische Spezialisten für Qigong und Akupunktur eingeladen. Sie haben auch mehrere Reisen nach China unternommen, um diese medizinischen Ansätze zu vertiefen. Außerdem haben Sie sich in Japan ausbilden lassen, insbesondere in der Kanpo-Medizin. Worin bestehen Ihrer Meinung nach die Unterschiede zwischen den Chinesen und den Japanern in ihrer Herangehensweise an die orientalische Medizin?
In der Tat war ich oft in China und habe viele berühmte Meister getroffen, auch in Japan. Leider denke ich, dass die chinesischen oder japanischen Lehrer heute im Allgemeinen nicht mehr sehr streng sind… Ich habe beobachtet, dass sie zu oft mit dem Ergebnis ihrer Behandlung zufrieden sind, auch wenn der Patient nicht geheilt ist. Genügsamkeit und der Wunsch nach Anerkennung bei der Arbeit scheinen den Arzt zu oft von seinen ursprünglichen Zielen abzulenken. Daruma (oder Bodhidharma)[vii] sagte im Angesicht von Kaiser Han Wudi [viii], dass es kein Verdienst ist, Gutes zu tun, wenn man dafür Anerkennung erwartet.
Es gibt jedoch eine andere Art zu leben. Ich bin mir selbst gegenüber kompromisslos. Und so ist es für mich eine Herausforderung, den Leidenden Erleichterung zu verschaffen, sie zu heilen zu können. Deshalb beschäftige ich mich mit allen möglichen Methoden. Sie mögen mich für einen etwas langweiligen Therapeuten halten…
Im Gegenteil, ich finde es spannend! Um auf Qi Gong zurückzukommen, diese Kunst des Energiesparens, könnten Sie uns sagen, wie es den Praktizierenden der orientalischen Medizin nährt und was es Ihnen in Ihrem täglichen Leben bringt?
Jemand, der die orientalische Medizin praktiziert und lebt, muss sein Qi Gong erlernen und vertiefen. Dies erfordert eine strenge und mühsame Praxis, die nicht unbedingt unserer Lebenwirklichkeit entspricht. Nur wenige gehen diesen Weg und stellen sich wirklich den damit verbundenen Schwierigkeiten. Folglich machen sich nur wenige Lehrer die Mühe, das wahre Qi Gong zu vermitteln, nicht wahr?
Dabei ist der Einsatz von Ki ein hervorragendes Instrument für die Diagnose und die Behandlung. Qi Gong führt zu fantastischen Ergebnissen! Es ermöglicht mir, den Patienten in der „Tiefe seines Wesens“ (心の中) wahrzunehmen und die „Stimme des Himmels“ (天の声) zu hören. Ohne wirklich zu üben kann man kein guter Praktiker werden.
Ich wende das therapeutische Qi Gong bei meinen Patienten an. Ihre Reaktion ermöglicht es mir, meine Diagnose zu bestätigen oder zu vervollständigen. Sie gibt mir Aufschluss über den Schweregrad des Zustands des Patienten, das Stadium seiner Krankheit, aber auch über seinen mentalen Zustand oder die im Körper gespeicherte Lebensenergie. Daher können diese Hinweise bei der Behandlung von Krebs, Alzheimer, Herz-Kreislauf-Erkrankungen usw. wichtig sein. Letzten Monat, im November 2020, hatten wir auch sehr ermutigende Ergebnisse bei drei Brustkrebspatientinnen und zwei über 90 Jahre alten Alzheimer-Patienten.
Diese Klinik ist ein Ort, an dem Patienten empfangen werden, sie fungiert aber auch als Dojo, als Ort der Übung und Ausbildung für Therapeuten. Auf diese Weise halten Sie den traditionellen Geist am Leben, der die therapeutischen Künste als Weg (Do) und nicht als Technik (Jutsu) betrachtet. Beim Lernen scheinen Sie viel Wert auf moralische Strenge zu legen. Wie wirkt sich diese Strenge auf die Ausbildung Ihrer Praktiker aus?
Das ist eine schwierige Frage… Es hängt alles von den Ansprüchen des Schülers an sich selbst ab, von den Patienten, die er behandeln möchte, und von der Art Therapeut, der er werden möchte.
Zwischen dem, was ich lehre, und seinen eigenen Erwartungen kann es einen Unterschied geben.
Ich weiß, dass der Weg des Bushido, diese traditionelle, radikale und opferbereite Form der Therapie, in der heutigen Welt als „moralische Belästigung“ empfunden werden kann. Im Moment glaube ich nicht, dass irgendein Schüler das tun möchte…
Also passe ich mich an, ohne mich dabei aufzugeben, und setze meine Lehrtätigkeit jeden Tag so gut ich kann fort.
Auf jeden Fall ist es auch die Aufgabe des Therapeuten, die Patienten so zu begleiten, dass sie dieses moralische Empfinden erreicht.
Welche anderen Eigenschaften sollte ein Therapeut Ihrer Meinung nach haben?
Diese Frage ist natürlich sehr wichtig. Eigentlich habe ich durch das Studium der taoistischen Künste gelernt. Es ist ein Weg des Herzens von großer Tiefe, durch den man die erforderlichen Qualitäten entwickeln kann. Es gibt einen Ausdruck, „Shin Sui no Rō“ (新水の労), was übersetzt werden kann mit „Wasser holen erfordert Anstrengung“. Das bedeutet, dass es im täglichen Leben wichtig ist, sich zu bemühen, anderen zu dienen. Ich bitte die Schüler auch, ihr Ego beiseite zu legen, um meine Lehre zu verinnerlichen und den gleichen Weg zu gehen wie ich. Aber die Zeiten sind heute ganz anders als noch vor 30 Jahren. Es funktioniert nicht mehr so wie früher.
Manchmal beschließe ich, die öffentlichen Toiletten selbst zu reinigen, und bitte meine Schüler, mir dabei zu helfen. Wir tun es umsonst. Wir tun es, damit wir nicht vergessen, woher wir kommen, und damit wir bescheiden bleiben. Das sind auch, um Ihre Frage zu beantworten, die Eigenschaften, die man beibehalten muss, um dem anderen, insbesondere dem Patienten, Raum zu geben. Natürlich geht es um moralische Strenge, aber auch das Lachen ist wichtig. Ich verlange von Therapeuten, dass sie wissen, wie sie einen Charakter verkörpern können, damit sie ihre Patienten zum Lachen bringen können und dabei respektvoll bleiben.
Welche Kampfkünste haben Sie studiert? Für wie lange?
Ich habe 3, 10 bzw. 20 Jahre lang Kendo, Iaido und Okinawa-Karate (Goju Ryu) gelernt. Ich erinnere mich nicht mehr genau an die Namen der Lehrer aus dieser Zeit.
Ich bin ebenfalls Kenjutsu-Praktizierender, daher verstehe ich die ganz besondere Beziehung, die man zum Schwert haben kann. Aber das ist nicht bei allen Lesern der Fall. Könnten Sie mir sagen, welche Lehren Sie aus der Kunst des Schwertes gezogen haben? Wie wenden Sie sie in Ihrer medizinischen Praxis an?
In der orientalischen Medizin wird der Begriff „Bōshin“ (望診) verwendet, um die Beobachtungszeit vor dem Patienten zu bezeichnen. Sie ist Teil der 4 diagnostischen Künste: Zuhören, Schauen, Fragen, Berühren. Es ist wirklich eine sehr wichtige Technik, die eine fast göttliche Ebene erreichen kann.
Es gibt Entsprechungen im Iai, vor allem durch das Konzept des „Marobashi“ [ix]: Arbeit im Einklang mit der Natur, frei und formlos, die sich jeder Situation anpasst. Um dies anwenden zu können, ist es wichtig, keine vorher festgelegte Absicht zu haben und jeder Situation neutral zu begegnen, um die ständigen Veränderungen des Gegenübers wahrzunehmen. Auch hier ist das „Bōshin“ präsent.
Man kann auch vom „Ai-Nuke“ (相秡) sprechen, was mit „gegenseitige Bewahrung“ übersetzt werden kann: enn Kontrahenten ihre Begegnung beenden, bevor sie überhaupt kämpfen, aus Respekt voreinander und vor dem Leben im Allgemeinen.
Diese Konzepte haben gemeinsam, dass sie mit dem „Willen des Himmels/des Universums“ (天の意志) in Einklang stehen müssen. Sie befinden sich im Bereich der Anerkennung und Akzeptanz des anderen. Mit anderen Worten, es geht um den Weg der Erleuchtung. indem die sechs Tugenden des Buddha in unser tägliches Leben integriert werden:
- Großzügigkeit
- Integrität
- Disziplin
- Geduld
- Beharrlichkeit
- und meditative Versenkung durch transzendentales Wissen.
Ich habe vorhin von Krankheit gesprochen, sie kann exakt das Ergebnis der Vernachlässigung dieser Tugenden sein. Die fehlende Integration in unsere Werte. Negative Emotionen wie Zorn und Gier sind der Samen. Der Weg des Schwertes kann aus dieser Sicht die medizinische Praxis beeinflussen, durch die ethische Dimension und die Beziehung zu sich selbst und zu anderen. Er ermöglicht uns auch, in der Zeit verankert zu bleiben und unseren Körper und Geist von Überflüssigem zu befreien.
Ich habe Freunde, die Experten in Iai und Yabusame [x] sind. Wenn Sie nach Japan kommen, werde ich sie Ihnen vorstellen, und Sie werden sie erleben können.
Es wäre mir ein Vergnügen! Sie sind ein Anhänger von Misogi, der Reinigung des Körpers durch Wasser. Sie praktizieren auch Kalligraphie, eine sehr anspruchsvolle Kunst. Diese Techniken stammen alle aus der japanischen Tradition. Welchen Platz nehmen sie in Ihrem Leben und in Ihrer Praxis ein?
Misogi praktiziere ich nicht mehr, aber ich führe tägliche Übungen zur Reinigung von Körper und Geist in anderer Form aus.
Was die Kunst der Kalligraphie betrifft, so gibt es sie in Japan schon seit langem, aber viele Strömungen konzentrieren sich nur auf die Technik, auf die ästhetische Leistung.
Viele Kalligraphien sind in der Tat sehr schön, aber es fehlt diese Dimension des Ki. Ich denke, es ist schwierig, so die „Harmonie von Seele/Geist“ (魂の調和)[xi] zu erreichen. Eine Kalligraphie, die nicht durch diese Dynamik bereichert wird, harmoniert nicht mit dem Universum.
Meine Herangehensweise an die Kalligraphie stammt jedoch aus meiner Praxis des Qi Gong. Sie wird in Verbindung mit dem „Weg des Himmels“ (天の道) ausgeführt. Durch diese Synergie, durch die Inspiration, kommen die Ideogramme zu mir, ich weiß vorher nicht, was ich tun werde, und es ist sogar manchmal schwierig für mich zu entziffern, was daraus entsteht!
Wie erreiche ich also diese Harmonie? Auch hier denke ich, dass die Praxis des Qi Gong diesen Weg eröffnet.
Wie sehen Sie die Entwicklung der Krankheitsbilder in Japan? In Frankreich haben wir eine deutliche Zunahme von Gelenkproblemen und Burn-out festgestellt. Aber die Menschen wollen nicht nur Linderung, sie wollen auch verstehen, warum sie Schmerzen haben. Ist das auch bei Ihnen der Fall?
Japanische Patienten sind in der Tat nicht viel anders. Für viele von ihnen liegt das Problem in ihrer Ernährung: die Öle, Fette und Süßigkeiten, die sie regelmäßig zu sich nehmen. Wenn sie sich dessen nicht bewusst sind, können wir keine zufriedenstellenden Ergebnisse erzielen.
In den letzten Jahren haben wir fast immer die gleichen Symptome festgestellt mit Bezug zu:
- Hyperpermeabilität des Darms („Leaky-Guts-Syndrom“);
- Hyperpermeabilität der Blut-Hirn-Schranke („Leaky Brain Syndrom“).
Das ist sehr interessant, ich danke Ihnen für diese Informationen. In Europa sind der energetische Aspekt des Shiatsu und die Heilkünste sehr in Mode. Ist Ihrer Meinung nach die Verwendung von Meridianen und Ki das Einzige, was man wissen muss, um eine Person auf natürliche Weise behandeln zu können?
Ich glaube nicht, dass es nur eine Sache gibt.
Neben den Meridianen und dem Ki, die für die meisten Menschen ungewohnte Konzepte sind, ist es wichtig, was die Person darüber sagt, wie sie sich fühlt, wie sie denkt, wie sie die Dinge wahrnimmt (心のあり方)[xii] … All das muss berücksichtigt werden.
Es geht auch darum, mit Respekt für andere zu leben und zu wissen, wie man seine Fehler/Defizite erträgt (恥を知る心)[xiii], wie es die Japaner in der Vergangenheit getan haben. Es gibt Ausdrücke wie:
- 自らじるという言い方もありま : Eingeständnis des eigenen Fehlverhaltens
- 自らを恐れるという言葉 Selbstkritik
- 自らを慎むという言葉: Zurückhaltung und Mäßigung
- 自らを戒めていく心 : Selbstbeherrschung
Ich bin mir ständig bewusst, dass dies die treibende Kraft hinter der Behandlung ist.
Ich werde Ihnen jetzt eine Frage stellen, die einfach sein könnte, es aber nicht ist: Was ist Ihrer Meinung nach ein Meridian und was ist Ki?
Ich denke, wir können den Vergleich anstellen zwischen dem, was im menschlichen Körper existiert, und dem Eisenbahnnetz. Die Meridiane sind die Schienen, das Ki ist der elektrische Strom, der den Zug zum Laufen bringt.
Dies sind Begriffe, die man bei einer Behandlung in der Klinik leicht demonstrieren kann. Der menschliche Körper ist wirklich außergewöhnlich…
Zum Abschluss dieses Interviews: Welchen Rat geben Sie Ihren Studenten? Was müssen sie tun, um lange, jahrzehntelang, praktizieren können, ohne sich zu erschöpfen?
Dankbarkeit zu empfinden ist sehr wichtig.
Man muss wissen, wie man dankbar ist und seine Eltern um Vergebung bitten kann. Denken Sie darüber nach, was Ihre Eltern Ihnen gegeben haben und was Sie ihnen im Gegenzug zurückgegeben haben, was Sie ihnen vielleicht angetan haben.
Hat man all das erkannt, wird die wahre Natur/Energie zum Vorschein kommen und man hat dann alle Ressourcen, um zu praktizieren.
Ich möchte mit diesem Satz schließen, der Sie zum Nachdenken anregen soll:
我以外全て師
Ware igai subete shi
Alle sind Meister außer mir
Vielen Dank.
Ich danke Ihnen, Sensei, für Ihre Zeit und für die Beantwortung meiner Fragen.
Autor: Ivan Bel
Übersetzerin: Karin Koers
Danksagung:
Ich möchte insbesondere den folgenden Personen dafür danken, dass sie den Kontakt mit Takeuchi Sensei hergestellt haben, dass sie mit ihm gesprochen, seine Gedanken erläutert, vom Japanischen ins Französische übersetzt und die Fotos zur Verfügung gestellt haben:
- Mehdi Abid
- Misako Sekine
- Nourit Masson-Sekine
Anmerkungen:
- [i] Fuku ki-hō (服気法): wörtlich die „Gewohnheitstechnik des Ki“.
- [ii]Titel im Deutschen: Rotbart;Weitere Informationen zu diesem ausgezeichneten Film finden Sie auf dem Informationsblatt über Allociné [Anm. d. Übers.: französisches Filmportal, in Deutschland z.B. bei Wikipedia oder YouTube].
- [iii] Barberousse…
- [iv] Yukio Mishima (三島 由紀夫) 1925 geborener japanischer Schriftsteller, der 1970 als letzter Japaner Selbstmord durch Seppuku (Öffnen des Bauches mit einem Schwert) beging. Er ist Autor zahlreicher Gedichte, Romane und Theaterstücke.
- [v] Mehdi Abid und Misako Sekine sind die Stellvertreter des Yin Shiatsu in Frankreich. Um mehr über Mehdi Abid zu erfahren, lesen Sie sein Interview auf France Shiatsu. Um mehr über Misako Sekine zu erfahren, besuchen Sie seine Website.
- [vi] Jiyū ishi (自由意志) : wortwörtlich „Freiheit + Wille“.
- [vii] Bodhidharma (Sanskrit in devanāgarī: बोधिधर्म „Weisheitslehre“; vereinfachtes Chinesisch: 菩提达摩, pútídámó oder 達摩, dámó; Japanisch: 達磨, daruma; ca. Ende des 5. Jahrhunderts n. Chr.), war ein persischer buddhistischer Mönch aus Indien, der das dhyāna aus dem mahāyāna brachte, bekannt als Chan in China und Zen in Japan. Die Chan-Schule nimmt für sich in Anspruch, ihre Wurzeln bis zum Buddha zurückzuverfolgen, Bodhidharma gilt als sein 28. Patriarch und erster chinesischer Patriarch. Er ist auch derjenige, der die indischen Kampfkünste nach China brachte.
- [viii] Hàn Wǔdì (汉武帝: -157 bis -87 v. Chr.) ist der siebte Kaiser der Han-Dynastie in China und regierte vom 9. März 141 v. Chr. bis zu seinem Tod, also insgesamt 54 Jahre lang. Er gilt zusammen mit den Kaisern Tang Taizong (Tang-Dynastie) und Kangxi (Qing-Dynastie) als einer der größten Kaiser in der Geschichte Chinas.
- [ix] 丸橋 (Marubashi), was eine kreisförmige Brücke bedeuten kann. Vielleicht ein Hinweis auf die zyklische Natur des Lebens/Lernens oder auf eine Zeiteinheit, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander übergehen.
- [x] Yabusame (流鏑馬) ist eine japanische Bogenschießtechnik, die vom Pferd aus ausgeübt wird. Der Bogenschütze schießt im vollen Galopp Pfeile mit stumpfer Spitze (entweder rübenförmig oder mit V-förmig gegabelter Spitze) auf drei Holzziele.
- [xi] Tamashī no chōwa (魂の調和): bedeutet „Harmonie der Seele“.
- [xii] Kokoro no arikata (心のあり方): kann übersetzt werden als „das Herz, wie es sein sollte“ oder „wie das Herz sein sollte“.
- [xiii] Haji o shiru kokoro (恥を知る心): Im Zusammenhang dieses Artikels bedeutet „sich seiner Fehler bewusst sein“.
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